Representing the People in Postwar Democracies: Citizens, Politicians, Experts and the Mass Media in the Federal Republic of Germany and Western Europe

Representing the People in Postwar Democracies: Citizens, Politicians, Experts and the Mass Media in the Federal Republic of Germany and Western Europe

Organisatoren
Harm Kaal, Radboud Universiteit, Nijmegen; Krijn Thijs, Duitsland Instituut, Universiteit van Amsterdam
Förderer
Gerda-Henkel-Stifung; Amsterdam School of Historical Studies; Duitsland Instituut Amsterdam
Ort
Amsterdam
Land
Netherlands
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
03.06.2022 -
Von
Hanco Jürgens, Duitsland Instituut, Universität von Amsterdam

Seit den 1990er-Jahren hat die Politikgeschichte sich stark weiterentwickelt von einem Fach, das sich auf die wichtigsten Entscheidungen der „großen Männer“ richtete, hin zu einer Wissenschaft von Ritualen, Netzwerken, Verhandlungsprozessen, Stilfiguren und Sprachdiskursen der Politik. Sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden haben aktuelle Studien viele Aspekte des politischen Geschäfts in neues Licht gestellt. Eine junge Generation von Historiker:innen wollte sich sowohl loslösen von der Polarisierung der siebziger und achtziger Jahren als auch von der damaligen Engstirnigkeit politischer Parteiengeschichten. Vor allem die Erfolge der Kulturgeschichte inspirierten zu neuen Formen der Politikgeschichte, die die Machtverhältnisse und Umgangsformen hinter den Kulissen aufdeckten.

Interessant ist nun die Frage, wie die neue Politikgeschichte sich weiterentwickelt hat, da sie als Denkrichtung heutzutage gerade nicht mehr ganz brandneu ist. Eher ist sie eine etablierte Disziplin geworden, international gut vernetzt und mit neuen Forschungsgeldern ausgestattet. Wenn man die Politikgeschichte als Spiegel der eigenen Zeit betrachtet, sieht man auch, wie die neuen Fragen der Politikgeschichte mit aktuellen Themenbereichen verknüpft sind. Das war gewiss der Fall bei diesem internationalen Workshop, der die politische Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger in den deutschen und westeuropäischen Nachkriegsdemokratien in den Fokus der Betrachtung nahm. Die Frage, wer genau mit „Volk“ gemeint ist, spielte immer wieder eine wichtige Rolle für die Legitimierung, Steuerung und Organisation der Politik. Themen des Workshops waren die Konstruktion des „Volkes“ in vielfältiger Weise, in der politischen Kommunikation und in der Mediatisierung und Verwissenschaftlichung der Politik. Interessanterweise spielt bei diesem Ansatz die politische Theorie selbst kaum mehr eine Rolle: Otto Kirchheimer und Arend Lijphart sind nur noch interessant aufgrund ihrer Rolle als Experten und Politikberater, als Vermittler der Politik.

In seiner Einführung stellte HARM KAAL (Nijmegen) drei Fragen: Wie und warum haben sich die Prozesse der Mediatisierung und Verwissenschaftlichung der Politik transnational fast gleichzeitig durchgesetzt, und wie können wir Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Demokratien erklären? Welche Quellen nutzen wir, wie und wo finden wir sie, und welche Methoden wenden wir an, um volkstümliche Demokratieverständnisse oder Wechselwirkungen zwischen der formellen Welt der Politik und der informellen Welt des Alltags zu analysieren? Und welche Begriffe wurden verwendet, um Volk und Demokratie anzudeuten? Man konnte dabei an zahlreiche Begriffen denken: normal, alltäglich, populär, pädagogisch, Bevormundung und Patriotismus. Bei all diesen Fragen spielten die Medien immer eine prägende Rolle. Deswegen sind die Wechselwirkungen zwischen Medien und Politik ein zentrales Thema des Workshops.

MALTE FISCHER (Nijmegen/Berlin) signalisierte eine post-nationalsozialistische Kommunikation in den deutschen Rundfunkprogrammen aus den 1950er-Jahren wie „Der Hörer hat das Wort“, wobei Konsens und einander Zuhören wichtiger war als Streit. Das änderte sich in den sechziger Jahren, die vor allem als eine Kommunikationsrevolution verstanden werden müssen. Ein interessantes Beispiel war der Eklat bei der Radiosendung „Prominente zu Gast“ 1966, als Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier vom Moderator Rudolf Ossowski gesagt wurde, das Publikum wolle nicht einfach von oben herab unterrichtet, sondern tatsächlich kritisch informiert werden und erwarte deswegen ehrliche Antworten auf seine Fragen. Die Bitte um ein offenes Gespräch statt Belehrung führte zu einem neuen Verständnis der Rolle der kritischen Staatsbürger:innen als aktive Teilnehmer einer offenen, demokratischen Kultur.

JAMIE LEE JENKINS (Nijmegen/Sheffield) zeigte, wie das Konzept der „gewöhnlichen Menschen“ weiter ausgedehnt und angestoßen wurde in den britischen Boulevardzeitungen der achtziger Jahren. Die Boulevardzeitung „The Sun“ hat sich damals von der alten Klassengesellschaft verabschiedet, um sich als Trägerin des Banners der ordinary people zu erheben. Sie wollte gerade diejenigen ins Bild bringen, die bis zu diesem Zeitpunkt keine Stimme hatten. So war „The Sun“, wie VINCENT KUITENBROUWER (Amsterdam) betonte, sowohl Spiegel und Medium als auch Agent neuer Entwicklungen. Man sollte sich aber fragen, inwiefern eine Fokussierung auf gewöhnliche Männer und Frauen in den Medien auf mehr Demokratie hindeutet, da die Fokussierung auf neue, bis dahin unerhörte oder ungehörte Stimmen andere Stimmen ausschließen kann. Jenkins zeigte jedenfalls, dass die Frage, wer diejenigen sind, die die Politik ansprechen möchte, nicht erst seit Donald Trump oder Boris Johnson problematisiert wurde, sondern spätestens in den Achtzigern schon brandaktuell war.

Auch die Angst vor den Massen hat schon eine lange Geschichte, die, wie ANNE HEYER (Leiden) zeigte, bis zum 19. Jahrhundert zurückführt. Vor allem am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine große Ambivalenz den gesellschaftlichen Massen gegenüber. Einerseits wurde gefragt, wie man die Massen mobilisieren könnte, anderseits fürchtete man die Massen, die von außen Druck auf die Debatten im Parlament ausübten. Dabei ordnete man oft die eigene politische Klientel als Masse positiv ein, während die „Anderen“ eher als Gefahr angesehen wurden. Die Professionalisierung der Politik stand in Wechselwirkung mit diesen Entwicklungen, da die neuen Berufspolitiker ihre Erfahrung und ihren Erkenntnisstand vor allem im Parlament etablierten.

Wie kompliziert die Fragen der politischen Kommunikation auch in der Bundesrepublik waren, zeigte LUKAS RATHJEN (Zürich), der die Diskurse der Intellektuellen in den fünfziger Jahren am Beispiel der Darmstädter Gespräche vorstellte, bei denen die Organisatoren der Gespräche aus ehemaligen Nationalsozialisten Demokraten machen wollte. Das intellektuelle Gespräch diente vor allem zur Überwindung der Einsamkeit. Man sollte frei reden, nicht als eine Maschine, sondern als Menschen. Die Gespräche sollten harmonisch geführt werden und auf die Persönlichkeitsbildung abzielen. Kurz nach dem Krieg wurde diese Art der Kommunikation ernsthaft als eine Möglichkeit angesehen, einander näherzukommen. Einander in den Augen schauen konnte noch recht schmerzlich sein. Sowohl aus den Themen der Gespräche („Der Mensch und die Technik“, „Individuum und Organisation“) als auch aus den Eingeladenen (Martin Heidegger, José Ortega y Gasset) könnte man eine gewisse Kontinuität mit den zwanziger Jahren ableiten. Gäste wie Dolf Sternberger und Alexander Mitscherlich aber hatten eher eine prägende Rolle in der Nachkriegszeit. Die Gespräche könnte man auch als Gegenmodell verstehen, nicht nur zur nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern auch zu den zeitgenössischen, von der SED gesteuerten intellektuellen Diskursen in der DDR oder zu den heimlichen Begegnungen der rechten Intellektuellen in Plettenberg, wo Carl Schmitt seine ehemaligen Kollegen, Schüler und Anhänger empfing. Rathjen zeigte auch Fotos der Gespräche, wobei peinlich deutlich wurde, wie sehr diese Debatten von Männern dominiert waren. Frauen waren in der Regel nur Teil des Publikums.

Die Frage, wo die überwiegend männlichen Politiker ihre Wähler:innen am besten erreichen können, wurde in einem stadthistorischen Panel über Hamburg als Polis beantwortet. Wie CLAUDIA GATZKA (Freiburg) betonte, hat die Lokalpolitik in der neuen Volkspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vorreiterrolle gespielt. Die Hamburger Volksparteien SPD und CDU sollte man nicht als Catch-all-Parteien verstehen, sondern eher als Parteien, die die gesamte Stadt vertreten. „Volk“ ist damit mehr mit dem Begriff „Volksgemeinschaft“ verwandt, wie er sich seit dem Ersten Weltkrieg entwickelt hat. Die volkstümliche Politik war stark auf Akzeptanz der Bevölkerung gerichtet, wobei die Politik das Wunschbild der Wähler:innen repräsentieren sollte. Dazu richtete die SPD sich nicht exklusiv auf die Hamburger Arbeiterklasse, sondern repräsentierte, wo möglich, die gesamte Stadt. Nach Gatzka wurden so die Durchschnittswähler:innen in lokalen Kontexten entdeckt. Auch zeigte sie auf, wie sich in Krisenzeiten eine neue politische Kommunikation entwickelte. So entstanden beispielsweise die Straßendiskussionen in den Siebzigern, als die Stadt in einer tiefen Wirtschaftskrise war.

MORITZ FÖLLMER (Amsterdam) konzentrierte sich auf die Bürgermeister von Hamburg. In urbanen Studien fokussiert man üblicherweise eher auf Graswurzelbewegungen, die oft für die Neueinrichtung alter Stadtviertel prägend gewesen sind. Auch die Hamburger Bürgermeister mussten sich zu ihnen verhalten. Seit den siebziger Jahren aber mussten sie ebenso die Grenzen ihrer Ambitionen erklären. Das leitete zu einem begrenzten Erwartungsmanagement. In einer Stadt mit konservativer Tagespresse und liberalen Wochenzeitungen wurde es für die sozialdemokratischen Bürgermeister immer schwieriger, ihre Mehrheiten zu behalten. Neue Gruppen in der Stadt erforderten ihre Aufmerksamkeit. Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Frage gestellt, was Politiker:innen in einer multi-direktionalen Gesellschaft überhaupt noch erreichen können. Hamburg als moderne Polis mit ihren offenen Räumen, mit ihren Möglichkeiten und Beschränkungen ist ein interessantes Beispiel für die Herausforderungen und Probleme moderner Politik.

Im letzten Panel ging es um die Rolle von Medienexperten in der Politik. Unterschiedlicher konnten die beiden Fallbeispiele nicht sein. TABEA NASAROFF (Freiburg) besprach die gesellschaftliche Rolle Dolf Sternbergers, der als deutscher Politikprofessor selber ein Muster des demokratischen Handelns wurde. Sein persönlicher Hintergrund spielte dabei eine wichtige Rolle: 1931 reichte er eine Doktorarbeit über Martin Heideggers „Sein und Zeit“ ein, verheiratet war er mit einer Jüdin, und gleich nach dem Krieg wurde er Herausgeber der Zeitschrift „Die Wandlung“. Er veröffentlichte regelmäßig Artikel in der FAZ und wurde häufig von anderen Medien nach seiner Meinung gefragt. Dabei hatte er die Rolle des weisen Professors inne, des Mannes, der nicht nur die Sprache des Dritten Reichs kritisch analysiert hat, sondern auch neue Begriffe prägte wie den des Verfassungspatriotismus.

SOLANGE PLOEG (Nijmegen) sprach über den niederländischen Journalisten Ferry Hoogendijk, der als Redakteur der Wochenzeitschrift „Elseviers Weekblad“ auch die wichtigsten Fernsehdebatten vor den nationalen Wahlen leitete. 1971 promovierte Hoogendijk an der Freien Universität Amsterdam mit einer Arbeit zur Parteipropaganda in den Niederlanden. Auch Ploeg stellte die Querverbindungen zwischen Medien, Expertentum und Wissenschaft dar, aber aus einem anderen Blickwinkel. In Hoogendijks Fall war die Doktorarbeit eher ein Instrument, um das Ansehen seiner journalistischen Arbeit zu erhöhen. Hoogendijk wurde 1975 Chefredakteur von „Elseviers Weekblad“ und war 2002/03 auch Mitglied des Parlaments für die Liste Pim Fortuyn.

Der Workshop brachte interessante neue Einsichten und Einblicke hinter die Kulissen von Politik und Medien. Als Hauptlinie könnte die Geschichte des Konsenssuchen und des Harmoniemodells gleich nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden, die in den sechziger Jahren von Dissens als Kommunikationsmodell abgelöst wurde. Seit den achtziger Jahren suchten die Medien viel aktiver nach einem neuen, bis dann kaum wahrgenommenen Publikum, wobei sowohl die Politik als auch die Medien sich definitiv von alten Ideen des „Volks“ oder der Klassengesellschaft verabschiedeten. Die Lokalpolitik spielte dabei öfters eine Vorreiterrolle.

Die Themen des Workshops waren auf Politik und Medien begrenzt. Das Feld der Politikvermittler hätte um Meinungsforscher und Institute für Demoskopieforschung erweitert werden können, die seit den sechziger Jahren einen großen Einfluss auf die Stimmung und Berichterstattung in den Medien und in der Politik hatten. Man hätte das Forschungsfeld auch um Künstler:innen erweitern können, die sich, gerade in Deutschland, oft stark politisch engagierten. Das Interesse an der Frage, wie das „Volk“ in der Politik und in den Medien repräsentiert wurde, hatte zur Folge, dass bestimmten Gruppen weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Bei der Geschichtsschreibung zur Suche nach gewöhnlichen Wähler:innen nach dem Zweiten Weltkrieg sollte man die politische Repräsentation bestimmter Wählergruppen – Frauen, Bürger:innen mit Migrationshintergrund oder Interessensgruppen wie die Vertriebenenverbände – gewiss nicht aus den Augen verlieren.

Konferenzübersicht:

Krijn Thijs (Amsterdam) / Harm Kaal (Nijmegen): Welcome and introduction

Panel 1: Democratic media and “ordinary” citizens

Malte Fischer (Nijmegen): Broadcasting the voice of the people: imagination and participation of “ordinary” citizens in West German public radio and television, 1950s-1970s

Jamie Lee Jenkins (Nijmegen/Sheffield): “Carrying the banner for the ordinary people”: Articulations of popular expectations of democracy in the Sun, 1980-1986

Vincent Kuitenbrouwer (Amsterdam): Comments

Panel 2: Pro politics and the art of the dialogue

Anne Heyer (Leiden): Who is debating? Conceptualisations of professional politicians and ordinary citizens

Lukas Rathjen (Zürich): Conversation and Compensation. Why West German intellectuals sought dialogue in the post-war period

Peter van Dam (Amsterdam): Comments

Panel 3: Modern polis – the case of Hamburg

Claudia Gatzka (Freiburg): Representing “Modern” Germany in an urban setting. Volksparteien and their voters in postwar Hamburg

Moritz Föllmer (Amsterdam): Governing Hamburg? Mayors and media in the city-state from the 1970s to the 1990s

Mario Daniels (Amsterdam): Comments

Panel 4: Experts and democratic self-reflecting

Tabea Nasaroff (Freiburg): Dolf Sternberger and “The Peoples’ Voice” – Contested notions of democracy in the West German public sphere during the 1950s and 1960s

Solange Ploeg (Nijmegen): The journalist as public expert and expert for the public? The case of Ferry Hoogendijk: Dutch journalist, political scientist, television personality (1959-1972)

Krijn Thijs (Amsterdam): Comments